Page 11 - Saarländisches Ärzteblatt, Oktober-Ausgabe 2025
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ÄR Z TLICHE FORTBILDUNG
Fallbericht: Pseudoglykämie bei schwerer FOR TBILDUNG
peripherer arterieller Verschlusskrankheit (PAVK)
Autoren: Diese wiederholte Diskrepanz wirft die Frage auf, ob bei allen
Dr. med. J. Ratermann, Dr. med. S. Guliyeva, Dr. med. J. Ratermann Patient*innen mit fortgeschrittener PAVK kapilläre Blut-
zucker messungen systematisch zu falsch niedrigen Werten
Institution: führen können.
HochwaldKliniken Weiskirchen, Haus St. Hedwig,
Klinik für Geriatrie Diskussion
Einleitung Die beobachtete Abweichung zwischen kapillären und venö-
sen Blutzuckerwerten lässt sich durch die ausgeprägte peri-
Die Bestimmung des Blutzuckers aus kapillärem Blut stellt phere arterielle Verschlusskrankheit (PAVK) der Patientin er -
eine etablierte Methode zur Eigenkontrolle bei Diabetes dar klären. Aufgrund der fortgeschrittenen arteriellen Obstruk-
[1]. Bei fortgeschrittener peripherer arterieller Verschluss- tionen war die periphere Perfusion – insbesondere in den
krank heit (PAVK) kann es jedoch zu einer signifikanten Diskre- Fingerkuppen – deutlich eingeschränkt. Dies führte zu einer
i
panz zwischen kapillären und venösen Glukosewerten kom- reduzierten Kapillardurchblutung und lokaler Gewebe schä-
men. Ursache hierfür ist die eingeschränkte Mikrozirkulation mie. In solchen ischämischen Arealen ist nicht nur der Blut-
in ischämischen Regionen, die zu einem lokal erhöhten fluss verlangsamt, sondern auch der Glukoseverbrauch des
Glukoseverbrauch und somit zu scheinbar zu niedrigen Gewebes erhöht, was zu irreführend niedrigen kapillären
Mess werten führen kann, obwohl die systemische Glukose- Blutzuckerwerten führen kann [1, 4, 5]. Untersuchungen
konzentration im Normbereich liegt [1, 2, 3]. Diese Abwei- belegen, dass bei schwerer PAVK oder mikrovaskulären Er -
chung birgt das Risiko einer Fehlinterpretation als Hypo gly- krankungen kapilläre Messungen häufig systematisch zu
kämie und kann zu einer unangemessenen therapeutischen niedrige Werte zeigen, was in der klinischen Praxis zu fehler-
Reaktion führen [4, 5]. Der folgende Fallbericht illustriert die- haften Einschätzungen führen kann [3,5].
ses klinisch relevante Phänomen anhand einer Patientin mit
ausgeprägter PAVK. In der klinischen Praxis ist dieses Phänomen insbesondere
bei älteren Patient*innen mit fortgeschrittener PAVK und
Falldarstellung Diabetes mellitus bedeutsam. Es kann zu Fehlinterpretationen
der Stoffwechsellage führen und eine unnötige Behandlung
Eine 66-jährige Patientin wurde mit starken Ruhe- und Nacht- einer vermeintlichen Hypoglykämie zur Folge haben. Bei
schmerzen beider Beine, infizierten Ulzera am linken Unter- unserer Patientin war die korrekte Interpretation der klini-
schenkel sowie einem glutealen Dekubitus stationär aufge- schen Ge samt situation und die zusätzliche venöse Kontrolle
nommen. Die computertomographische Angiografie zeigte entscheidend, um eine Fehldiagnose zu vermeiden.
langstreckige, vollständige Verschlüsse der infrarenalen
Bauch aorta, der Beckenstrombahnen beidseits, der linken Hintergrund:
Arteria poplitea sowie der Unterschenkelarterien. Es erfolgte PAVK und Diabetes mellitus
eine gefäßchirurgische Versorgung mittels aortobifemoraler
Y-Prothese. Diabetes mellitus ist ein wesentlicher Risikofaktor für die
Entwicklung und das Fortschreiten einer PAVK. Epidemio lo-
Im Rahmen der anschließenden geriatrischen Rehabilitation gische Daten zeigen:
fiel auf, dass mehrfach kapilläre Blutzuckerwerte aus den
Fin gerkuppen im Bereich von 54 mg/dl lagen, obwohl die • Mehr als 30 % der Patient*innen mit PAVK haben einen
Patientin keinerlei klinische Hypoglykämiesymptome zeigte. Diabetes mellitus [6].
Zur Überprüfung der Messgenauigkeit wurde eine venöse • Umgekehrt liegt die Prävalenz einer PAVK bei Diabe ti-
Blutprobe entnommen und gleichzeitig mit dem Blut zucker- ker*innen ≥ 65 Jahre bei rund 26 % [7].
messgerät getestet sowie im Labor analysiert. Beide Messun-
gen zeigten identische, normoglykämische Werte. Verläufe bei Diabetiker*innen sind häufig schwerer, mit ver-
stärkter Beteiligung distaler Gefäßabschnitte, höherer Komp-
Bei der nächsten Blutzuckerkontrolle am selben Abend lag li kationsrate, erhöhter Amputationsgefahr und vermehrtem
der kapilläre Wert bei 33 mg/dl. Eine parallele Mes sung des Auftreten kritischer Extremitätenischämien. Eine präzise Glu-
venösen Blutes mit dem Blutzuckermessgerät er gab einen kosekontrolle ist daher essenziell.
normoglykämischen Wert von 94 mg/dl. Eine medi kamentöse 11
antidiabetische Therapie bestand nicht.
Saarländisches Ärzteblatt Ausgabe 10/2025